Alvar Aalto – der Systemiker der Architektur
Gestern Minimalismus, heute Industrialismus – Einrichtungsstile sind, ebenso wie Mode oder Popkultur, Zyklen unterworfen. Die Gründe für die Wiederkehr einer ästhetischen Prägung sind mannigfaltig bis unerklärlich, jedoch immer heiß diskutiert. Zumeist lässt sich die Bedeutung eines Trends erst in Retrospektive erschließen. Der Versuch erfolgt über die Einordnung eines Trends in das soziokulturelle Zeitgeschehen. Wieso erlebte die Farbe Millenial Pink letztes Jahr einen grandiosen Wiederaufschwung und wieso der funktionale Industrial Style? Kolumnisten auf der ganzen Welt widmeten sich der Untersuchung dieses temporären Phänomens. Erstaunlich unbeachtet bleiben dabei stilistische Konstanten, einzelne Elemente, die sich in jeder Epoche wiederfinden lassen. Einer der wenigen Interior-Designer, dem es gelungen ist, Überdauerndes zu schaffen, war der Finne Alvar Aalto (*1898; †1976).
Alvar Aalto – ein Finne schreibt Architekturgeschichte
Der vom Bauhaus und dem Deutschen Werkbund beeinflusste, finnische Architekt und Designer schuf zwischen 1920 und 1970 ikonische Gebäude, Raumentwürfe und Einrichtungsgegenstände, die nie aus der Zeit gefallen wirken, nie unpassend oder unpopulär gewesen wären. Unvergessen ist die Form des Paimio Stuhls, dessen Neuinterpretationen immer noch Hotellobbies und die Wohnzimmer Kunstbegeisterter komplettieren.
Funktion über Stil
Auch wenn er als einer der Wegbereiter des Modernismus gilt, mal dem Funktionalismus, dem Klassizismus oder dem Monumentalismus zugeordnet wird, war sein Werk nie dogmatisch einer Stilrichtung untergeordnet, sondern erschuf diese mit. Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen stand im Zentrum seines Schaffens nicht allein ein ästhetischer Gedanke. Alle von ihm entworfenen Gebäude, Räume, Möbelstücke oder Glaskreationen eint ihre Anpassung an das Menschliche. Eine Bibliothek war für ihn mitnichten ausschließlich ein Ort strenger Rationalität, sondern funktioneller Gefälligkeit, in dem anstatt überwältigender Betonformationen der wissbegierige Besucher im Vordergrund steht. Ein Sanatorium (das Sanatorium von Paimio), zu dieser Zeit oftmals ein kasernenähnlicher Ort, konzipierte er licht und offen. Seine unverwechselbaren Möbel bestechen in ihrer reduktionistischen, funktionellen Formschönheit durch ihre Anpassungsfähigkeit. Ob im Vorder- oder im Hintergrund, für sich allein oder als Teil einer Formation, nie wirken sie albern, laut oder prätentiös.
Wegbereiter des Skandi
Hierfür verließ sich Aalto vor allem auf Beispiele aus der Natur. Helles, weich wirkendes Holz, meist Buche oder Pinie, dominiert seine Möbeldesigns und verstärkt den Eindruck von Leichtigkeit seiner Raumkonzepte. Anleihen seiner Möbel- und Farbkonzepte lassen sich heute im zeitgenössischen Skandinavischen Stil wiederfinden. Die organischen Formen seiner Glasdesigns, insbesondere Vasen, erinnern an Wellen, sind spielerisch ohne jemals ins Kitschige abzudriften. Von ihrer Zeitlosigkeit zeugen die anhaltenden Reproduktionen ihrer einzigartigen Form. Wer heute eine seiner Vasen erstehen möchte, findet sie im Sortiment des Glasherstellers Iittala.
Warum Aaltos Werk zeitlos ist
Weshalb aber haben Aaltos Designs bestand? Warum kommen und gehen sie nicht mit der Zeit, wie beispielsweise der Industrial Style? Endgültig wird auch diese Frage nicht zu beantworten sein. Auffällig ist jedoch, dass seine Entwürfe nicht allein als Antwort auf das vorgelagerte geschichtliche Zeitgeschehen zu interpretieren sind. So ist in Aaltos Designs beispielsweise weder eine Abwehr oder Verarbeitung der Großen Depression eindeutig auszumachen, noch ist sein Schaffen ausschließlich an die über allem schwebende Industrialisierung gekoppelt. Sieht man von einer gewissen Materialrationalität ab, verbirgt sich in seinem Werk auch keine künstlerische Resonanz auf den Zweiten Weltkrieg.
Systemischer Schaffensansatz
Dagegen hat Aalto wie kaum ein Zweiter aus einer humanistischen Architekturphilosophie heraus Designelemente geschaffen, die sich durch ihre Komplementarität zu den Lebensentwürfen der Menschen oder Natur auszeichneten. Gebäude oder Designs sah er immer im Zusammenhang mit ihren Benutzern und der Umgebung. Vielleicht ist es auch die unscheinbare, funktionale Schönheit seiner Designs und die sich daraus ergebende flexible Kombinierbarkeit, die sie unabdingbar für uns machen. Die sterile Strenge des Minimalismus kann durch sie aufgebrochen werden ohne die Stiltreue zu gefährden. Der Wucht des vom Stahl und dunklen, schweren Holz dominierten Industrial Style können Aaltos Möbel Leichtigkeit entgegensetzen, wobei der urbane Stil erhalten bleibt.
Alvar Aalto in Berlin
Der neue Skandinavische Stil ist von seinen Designkonzepten durchzogen und auch der in Pandemiezeiten an Popularität gewinnende Hygge-Trend in seiner wesensgewandten Gemütlichkeit bedient sich seiner stilistischen Ideen. Aaltos Designs werden uns noch lange begleiten, da sie nicht für sich stehen, sondern in ihrer Unterstützung der Menschen ihre Bedeutung finden. Wer sich ein Bild von seiner architektonischen Handschrift machen möchte, kann dies im Berliner Hansa-Viertel, in der Klopstockstraße. Hier entstand im Zuge der Internationalen Bauausstellung 1957 ein Apartmentgebäude nach seinem Entwurf.